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Warum steigt die Totgeburtenrate in Deutschland an?

09.2023
Autorin Lara Mönter, B.Sc. Hebammenwissenschaften, Hebamme aus Fiersbach 

Die Totgeburtenrate in Deutschland ist im Jahr 2022 erneut angestiegen. Die veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Rate seit 2007 kontinuierlich ansteigt und 2022 den höchsten Wert seit 1996 erreicht hat. Welche Erklärungsansätze gibt es für diese Entwicklung?

Die Zahlen
Per Definition im Personenstandsgesetz spricht man in Deutschland von einer Totgeburt, wenn ein Kind mit einem Geburtsgewicht von über 500 g oder ab der 24. SSW tot geboren wird. Seit Beginn der Erhebung der Totgeburtenrate in Deutschland ist diese zunächst deutlich gesunken. 1950 wurden 21,8 von 1000 Kindern tot geboren. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 4,4 Totgeburten pro 1000 Geburten. Die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen jedoch einen kontinuierlichen Anstieg an Totgeburten seit dem Jahr 2007, in dem 3,5 von 1000 Kindern tot zur Welt kamen. Die Zahl aus dem Jahr 2022 ist damit die höchste seit 1996 (4,5 von 1000) (DeStatis, 2023).

Vorsicht bei der Interpretation der Zahlen
Die Betrachtung der veröffentlichten Zahlen wirkt zunächst beunruhigend, muss aber wie jede Statistik genau betrachtet werden. So wurden in den Jahren seit 2007 zwei wichtige Änderungen durchgeführt: 2013 wurde das Personenstandsgesetz angepasst. Eltern dürfen seither die Geburt eines Sternenkindes auch bei einem Geburtsgewicht unter 500 g beim Standesamt melden. Durch die Registrierung der Geburt haben die Eltern die Möglichkeit, die Geburt ihres Kindes auch offiziell als solche anerkennen zu lassen. Damit fließen die Geburten von Sternenkindern unter 500 g mit in die Statistik ein, wenn die Eltern sich entscheiden, die Geburt offiziell zu registrieren (BMFSFJ, 2018). Eine weitere Änderung im Personenstandsgesetz erfolgte 2018. Seitdem werden Totgeburten nicht nur ab 500 g Geburtsgewicht, sondern auch ab der 24. SSW als Totgeburt definiert. Es ist möglich, dass die Veränderung der rechtlichen Definition einen Einfluss auf die steigenden Zahlen hat.

Künstliche Befruchtungen
Dennoch müssen die steigenden Zahlen in der Geburtshilfe in Deutschland Beachtung finden. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für den Trend. Eine mögliche Ursache ist die steigende Anzahl an künstlichen Befruchtungen in Deutschland. Eine Erhebung von Statista zeigt, dass die Anzahl von künstlichen Befruchtungen (IVF, ICSI und Kryo) von 77.229 im Jahr 2002 auf 118.677 im Jahr 2021 angestiegen ist (Statista Research Department, 2023). Eine künstliche Befruchtung ist mit einem erhöhten Risiko für eine Totgeburt assoziiert (Wisborg et al., 2010).

Maternales Alter
Bei der Bekanntgabe der steigenden Zahlen der Totgeburten aus dem Jahr 2021 wies das Statistische Bundesamt darauf hin, dass man aufgrund der Erhebung einen Zusammenhang zwischen dem maternalen Alter und der Totgeburtenrate vermuten könne. Denn das durchschnittliche Alter der Frauen, die Totgeburten erlitten hatten, sei höher als das Durchschnittsalter von Frauen mit Lebendgeburten (32,2 vs. 31,8). Da die Totgeburtenrate aber in allen Gruppen angestiegen sei, könne dies nicht der einzige Einflussfaktor sein (DeStatis, 2022). 

Zustand nach Sectio
2021 wurden in Deutschland 236.869 Sectiones durchgeführt. Knapp jedes dritte Kind in Deutschland kommt per Kaiserschnitt auf die Welt. Ein Einfluss der steigenden Sectiorate auf die Totgeburtenrate ist denkbar, denn der Zustand nach Sectio ist als Risikofaktor für eine Totgeburt bekannt (Townsend et al., 2021).

Fazit: Die steigende Totgeburtenrate in Deutschland ist ein Grund, die gängige Praxis in der Geburtshilfe stetig zu überdenken und zu hinterfragen. Weitere Untersuchungen sind notwendig, um genaue Ursachen benennen und beheben zu können. Auch wenn die statistischen Zahlen aus erwähnten Gründen kritisch zu betrachten sind, zeigt sich doch ein schon Jahre anhaltender Trend, der nicht ignoriert werden darf. Hinter jeder Totgeburt steht das Leid einer jungen Familie und daher muss die Problematik in der Geburtshilfe mit der größten Dringlichkeit betrachtet werden.

Referenzen:
BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018). Sternenkinder, Zugriff unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/sternenkinder-75368  am 11.07.2023.
DeStatis – Statistisches Bundesamt (2022). Die Zahl der Totgeburten je 1000 Geburten seit 2007 um 24 % gestiegen, Zugriff unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/07/PD22_303_12.html am 11.07.2023.
DeStatis – Statistisches Bundesamt (2023). 12612-0018: Totgeborene, Totgeborene je 1000 Lebend- und Totgeborene: Deutschland, Jahre, Zugriff unter: Anteil der Totgeburten im Jahr 2022 leicht auf 4,4 je 1 000 Geborene gestiegen - Statistisches Bundesamt (destatis.de) am 11.07.2023.
Statista Research Department (2023). Anzahl der In-vitro-Fertilisationen in Deutschland nach Art der Behandlung in den Jahren von 2002 bis 2021, Zugriff unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/656455/umfrage/in-vitro-fertilisationen-in-deutschland-nach-art-der-behandlung/ am 11.07.2023.
Townsend, R., Sileo, F., Allotey, J., Dodds, J., Heazell, A., Jorgensen, L., Kim, V., Magee, L., Mol, B., Sandall, J., Smith, G., Thilaganathan, B., Vondadelszen, P., Thangaratinam, S., Khalil, A. (2021). Prediction of stillbirth: an umbrella review of evaluation of prognostic variables, in: Obstetrics & Gynaecology Monash Health, 76(6), S. 315–317.
Wisborg, K., Ingerslev, H., Henriksen. T. (2010). IVF and stillbirth: a prospective follow-up study, in: Human Production, 25(5), S. 1312-1316.