07.2019
Autor Prof. J. Spranger, Universitäts-Kinderklinik Mainz
In einer Erörterung aus dem Great Ormond Hospital wird das seit 40 Jahren unter der Bezeichnung ‚Münchhausen by Proxy’ bekannte Phänomen besprochen: das Kind mit einem von Mutter oder Vater beschriebenen, beim Kind auch nach gründlicher Anamnese und Untersuchung nicht verifizierbaren Symptom – Beispiel Bauchschmerzen [1].
Stimmen Mutter und Kind in Art, Häufigkeit, Lokalisation der Beschwerde überein, sind entsprechende diagnostische und ggf. therapeutische Maßnahmen selbstverständlich.
Wird das Symptom vom Kind vage oder nicht bestätigt, könnte dagegen eine von den Autoren als ‚komplex’ beschriebene Situation vorliegen, in der das Symptom von Mutter oder Vater angenommen, vom Kind selbst jedoch nicht wahrgenommen wird.
Weitere Hinweise auf ein Schein-Symptom sind:
- fehlender Bezug auf die tatsächliche Krankheit,
- keinerlei objektive klinische oder Laborbefunde,
- Wunsch der Eltern nach immer neuen Untersuchungen,
- fehlendes Ansprechen auf therapeutische Maßnahmen,
- Auftreten neuer unklarer Beschwerden,
- fehlende Umsetzung von Behandlungsvorschlägen,
- Rundum-Konsultation anderer Ärzte,
- aus dem Symptom nicht begründbare Einschränkung des kindlichen Tagesablaufs.
Die Schein-Symptome können sich bei Sorgeberechtigten zur Überzeugung einer Krankheit verdichten, die de facto beim Kind nicht vorliegt, d.h. zu einer Pseudo-Krankheit. Die englischen Autoren detaillieren das schrittweise Vorgehen in diesen Situationen beginnend mit beruhigenden Hinweisen („ja, das Symptom mag da sein, ist aber harmlos’), über den Einbezug anderer Familienmitglieder in den Überzeugungsprozess, bis zur stationären Beobachtung des Kindes, eingehenden Analysen der häuslichen Situation und Familientherapie.
Kommentar: Wer solch eine Situation in der Praxis hat, sollte diese vierseitige Arbeit im Original lesen. Ein gesundes Kind krank zu reden ist eine seelische Misshandlung, die im Gegensatz zu körperlichen sehr viel schwieriger zu objektivieren ist. Mögliche Ursachen des elterlichen Fehlverhaltens sind in Teil 1 des Überblicks ausführlich besprochen [2].
Referenzen:
[1] Glaser D, Davis P (2019) For debate: Forty years of fabricated or induced illness (FII): where next for pediatricians? Paper 2: Management of perplexing presentations including FII. Arch Dis Child 104:7-11.
[2] Davis P, Murtagh U, Glaser D (2019) 40 years of fabricated or induced illness (FII): where next for pediatricians. Paper 1: Epidemiology and Definition of FII. Arch Dis Child 104:110-114.