09.2024
Autorin Violetta Brauksiepe, Bsc. Hebammenwissenschaften, Hebamme aus Essen
Familienzuwachs ist für die Hebammenbetreuung ein durchaus wichtiges Thema. Denn die Rolle von Geschwistern beeinflusst die familiäre Dynamik und zahlreiche Aspekte der kindlichen Entwicklung wie soziale, emotionale, motorische und kognitive Faktoren. Dem Statistischen Bundesamt zufolge wachsen die meisten Kinder in Deutschland immer noch mit Geschwistern auf; nur etwa jedes vierte Kind ist ein Einzelkind.
Individuelle Positionen in der Geschwisterfolge tragen zur Herausbildung spezifischer Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen bei. Die wechselseitige Interaktion fördert die Entwicklung sozialer Kompetenzen und bietet einen Raum für die Erprobung von Konfliktlösungsstrategien. Eifersucht, Rivalität, Abgrenzung und Konkurrenz sind ebenfalls allgegenwärtige Aspekte, die sich sowohl konstruktiv als auch destruktiv auf die Entwicklung, Persönlichkeit und soziale Anpassungsfähigkeit eines Kindes auswirken können. Insgesamt lassen sich die Einflüsse von Geschwistern als eine dynamische Wechselwirkung betrachten, die entscheidend zur Formung der individuellen Entwicklung beiträgt.
Geschwisterposition und Persönlichkeitsbildung
Erstgeborene, mittlere und jüngste Geschwister entwickeln oft unterschiedliche Charaktereigenschaften und Verhaltensmuster, was teilweise auf die unterschiedlichen Erwartungen und sozialen Rollen zurückzuführen ist, die ihnen innerhalb der Familie zugewiesen werden. Studien weisen darauf hin, dass Erstgeborene häufig als verantwortungsvoll und führungsstark gelten, da sie oft frühzeitig Betreuungs- und Führungskompetenzen entwickeln. Sie neigen dazu, eine Vorbildfunktion für ihre jüngeren Geschwister zu übernehmen und Reflexionsfähigkeiten zu entwickeln, die ihnen helfen, komplexe soziale Interaktionen zu steuern. Jüngere Geschwister reagieren auf die Vorreiterrolle der Ältesten oft mit Akzeptanz, Anpassung und Nachahmung. Mittlere Geschwister zeigen oft das Bestreben, sich gegenüber ihren Geschwistern abzugrenzen.
Elterliche Behandlung und soziale Erwartungshaltungen spielen ebenfalls eine herausragende Rolle. Ein Aspekt, der oft betont wird, ist die ungleiche Behandlung durch Eltern, die Rivalität und Eifersucht fördern kann. Solche Dynamiken beeinflussen nicht nur das Familienklima, sondern prägen auch das individuelle Selbstwertgefühl und das emotionale Bewusstsein der Kinder nachhaltig.
Motorische Entwicklung
In den ersten Lebensjahren eines Kindes spielt die motorische Entwicklung eine entscheidende Rolle für die allgemeine Entwicklung. Geschwister können hierbei sowohl fördernd als auch hemmend wirken. Es wurde beobachtet, dass jüngere Geschwister motorische Meilensteine wie das Krabbeln und Laufen häufig früher erreichen, möglicherweise aufgrund der Rollenvorbilder der älteren Geschwister. Diese Kinder profitieren sowohl von der Nachahmung als auch von der Motivation durch die Interaktionen mit älteren Geschwistern. Gleichzeitig zeigt sich, dass Erstgeborene oft in der Feinmotorik besser abschneiden, da sie intensivere elterliche Aufmerksamkeit und Förderung erhalten. Die verstärkte Unterstützung bei der Erkundung und beim Erlernen neuer Fähigkeiten kann zu einer schnelleren Entwicklung in diesem Bereich führen.
Es gibt jedoch auch Studien, die keine signifikanten Unterschiede in der motorischen Entwicklung zwischen Einzelkindern und Geschwistern feststellen. Dies deutet darauf hin, dass weitere Einflussfaktoren hierbei eine ebenso große Rolle spielen können. Die Studienlage bleibt teilweise widersprüchlich und es bedarf weiterer Forschung.
Soziale und emotionale Entwicklung
Der Umgang mit Geschwistern ermöglicht es Kindern, früh wichtige soziale Fähigkeiten wie Kooperation, Empathie und Konfliktlösung zu erlernen. Die oftmals engen und langfristigen Bindungen zwischen Geschwistern bieten hierfür ein einzigartiges Trainingsfeld. Studien legen nahe, dass Geschwister durch ihre Interaktionen nicht nur gegenseitige Unterstützung leisten, sondern sich auch als Resilienzquelle erweisen, insbesondere in Übergangsphasen wie dem Eintritt in den Kindergarten. So lernen Kinder nicht nur den Umgang mit Konflikten, sondern auch das Verständnis für und die Anpassung an veränderte Gegebenheiten. Eigenverantwortliche Interaktionen mit Geschwistern fördern zudem die Entwicklung eines gesunden Selbstkonzepts. Sie sind jedoch von einer dynamischen Balance zwischen Nähe und Rivalität geprägt, die ebenfalls zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen beiträgt.
Rivalitäten und Eifersucht können tiefgreifende und langanhaltende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und das soziale Verhalten der Betroffenen haben. Solche dynamischen Prozesse beginnen oft in der Kindheit und prägen die Geschwisterbeziehungen über viele Jahre hinweg. Während die Konkurrenz zwischen Geschwistern in einigen Fällen dazu führen kann, dass Kinder mehr Ehrgeiz und Motivation entwickeln, birgt sie auch das Risiko, emotionale Verletzungen zu verursachen, die bis ins Erwachsenenalter nachwirken können. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Art und Weise, wie Eltern mit der Eifersucht umgehen. Die Bevorzugung eines Kindes, ob bewusst oder unbewusst, kann Rivalitäten verstärken und das Selbstwertgefühl der Kinder beeinflussen. Allerdings ist Eifersucht nicht ausschließlich negativ zu bewerten; sie kann ebenso als Ansporn dienen und die individuelle Entwicklung fördern, sofern die Gefühle konstruktiv begleitet werden. In diesem Kontext spielen Geschwister eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von sozialen Kompetenzen. Indem sie sich gegenseitig messen und voneinander lernen, entwickeln sie Mechanismen der Konfliktlösung und Resilienz, die im späteren Leben von Nutzen sein können.
Familienbetreuung
Als Hebamme können Sie Eltern beim Start in eine veränderte Familienkonstellation bedarfsgerecht unterstützen, indem Sie ihnen entsprechende Anregungen geben:
- Kinder müssen nicht gleich behandelt werden, aber fair. Die Bedürfnisse jedes Kindes sollte entsprechend seiner Persönlichkeit berücksichtigt werden.
- Eltern sollten keine Konkurrenz erzeugen, indem sie die Leistungen eines Kindes besonders hervorheben. Ein Geschwisterkind darf nicht das Gefühl haben, immer "das schlechtere" zu sein. Ist das der Fall, können Eltern versuchen, seine besonderen Fähigkeiten zu fördern und es häufiger zu loben.
- Geschwister sollen Konflikte möglichst selbst lösen. Soweit erforderlich, sollten die Eltern sie dabei unterstützen, eine friedliche Lösung zu finden.